Ein anderes Beispiel für einen blinden Fleck ist, dass ich während der ersten Wochen der Corona-Pandemie – wie die meisten anderen Politiker*innen – gesagt habe, dass dies die schwerste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei. Bis mich eine Freundin, die aus Leipzig kommt, darauf hingewiesen hat, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands die ökonomischen Verwerfungen in Ostdeutschland riesig waren, dass 20 Prozent der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern arbeitslos wurden, die Treuhand 4000 von 14 000 Betrieben schloss und die meisten anderen an westdeutsche Investoren verkaufte. Dass mit der ökonomischen Entwertung auch eine mentale verbunden war und all das verlernt werden musste, was vorher von vielen als sichere Wahrheit geglaubt wurde. Die Wiedervereinigung war nach 40 Jahren Unrechtsregime der DDR ein gigantischer Umbruch, für viele ein Aufbruch, aber für viele folgte auch eine Zeit großer Verunsicherung und Abwertung. Entsprechendes gilt für die Formulierung, dass Freiheitsrechte in einem nie da gewesenen Maß eingeschränkt wurden. Für diejenigen, die in Stasi-Knästen saßen, muss das mindestens geschichtsvergessen klingen. Die Rede von der »schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg« ist eine westdeutsche. Und das hatte ich nicht gesehen. Ich habe westdeutsch gedacht, ohne es zu bemerken.

—Robert Habeck, »Von hier an anders«, (Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2021), 34.

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